Zwischen Sehnsucht und Verlust. Varianten elegischen Sprechens in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts

Ausgehend von der im Zuge der Emotionalisierung und Psychologisierung der Ästhetik erfolgten gattungstheoretischen Neubestimmung der Elegie im 18. Jahrhundert, die die gemäßigte Empfindung durch eine Distanzhaltung des lyrischen Subjekts als Voraussetzung poetischer Produktion etablierte, untersucht die Arbeit elegisches Sprechen in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts als einen von der antiken Gattung ,Elegie‘ losgelösten, gemäßigten Gefühlsmodus.
    Obwohl dieser auf den ersten Blick im Widerspruch zum Fortschrittsdenken und innovatorischen Selbstverständnis der (literarischen) Moderne steht, erweisen sich gerade deren Brüche und Krisenerfahrungen als Nährboden für die Etablierung elegischen Sprechens. Das Elegische verbindet die Kontinuität der literarischen Tradition mit einem formalen Bruch des elegischen Distichons und eröffnet in gebundenen wie freien Versformen einen Raum für innehaltende Reflexion und emotionale Resonanz, in dem die Ambivalenz der modernen Lebenswirklichkeit verhandelt wird. Anhand eines die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts repräsentativ abbildenden Textkorpus’, das Gedichte von Else LaskerSchüler, Georg Trakl, Wilhelm Klemm, Erich Kästner, Klabund, Johannes R. Becher und Gottfried Benn umfasst, werden verschiedene Varianten elegischen Sprechens aufgezeigt. Es wird untersucht, wie das elegische Ich Verlusterfahrungen, gesellschaftliche Umbrüche und existenzielle Krisen reflektiert und die empfundene Widersprüchlichkeit der Moderne in einen übergeordneten, universellen Rahmen menschlicher Empfindung transzendiert. LaskerSchüler gestaltet die Liebe als mystifizierten Rückblick. Trakl verknüpft die Dekadenzstimmung seiner Zeit mit einer verhaltenen Erneuerungsvision, während Klemm das Geschehen des Ersten Weltkrieges mit distanzierter Nüchternheit einfängt. Klabund beschwört die Sehnsucht nach einer verlorenen Einheit zwischen Mensch und Natur, während Kästner das Großstadtleben der Weimarer Republik scharf ironisiert. Becher macht die poetische Vergegenwärtigung der Heimat zur Strategie des seelischen Überlebens im Exil und Benn wiederum widmet sich der Vergänglichkeit der Liebe als metaphysische, existenzielle Erfahrung.

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